Victoria Tüllmann ist niedergelassene Tierärztin und Vogelmedizinerin in Mönchengladbach. Für mags besucht sie regelmäßig die Vogelvoliere im Botanischen Garten, um nach deren gefiederten Bewohnern zu sehen. Sie kontrolliert Nester, impft die Tiere, behandelt Verletzungen, gibt Futterempfehlungen. Und wenn Martin Angenheister-Bennett von der mags-Grünunterhaltung, Herr über die Vogelvoliere und von Kindesbeinen an passionierter Vogelhalter, fachliche Fragen zu Vögeln aller Arten hat, trifft er sich mit Victoria Tüllmann.
Heute sitzen die beiden zusammen, um über Kanadagänse in der Stadt zu reden. Hunderte von ihnen leben mittlerweile in Mönchengladbach. Dabei gehören sie hier gar nicht hin, ihre ursprüngliche Heimat liegt in den USA und Kanada. Von dort aus machten sie sich in den 1970er Jahren auf nach Skandinavien und eroberten im Anschluss weitere europäische Länder.
Kippflügel verhindern das Fliegen
Martin Angenheister-Bennett fallen in den städtischen Parks immer mehr junge Kanadagänse mit so genannten Kippflügeln auf. Das ist keine Verletzung, sondern eine ernährungsbedingte Fehlentwicklung der Flügel: „Menschen, die Gänse und Enten mit Brot oder Backwaren füttern, nehmen in Kauf, dass die Vögel sich fehlentwickeln“, sagt der vogelaffine Mitarbeiter der mags-Grünunterhaltung. Denn, so erklärt Victoria Tüllmann, Brot und Backwaren seien viel zu kalorienreich für die jungen Tiere:
„Kippflügel entstehen durch Überfütterung während der Wachstumsphase. Die Vögel sind dann aufgrund der Behinderung flugunfähig. Das bedeutet: Haben sie das Gras an einer Stelle abgefressen, können sie nicht zum nächsten Nahrungsort fliegen.“
Victoria Tüllmann, Tierärztin und Vogelmedizinerin
Warum Brot und Backwaren zu Kippflügeln führen
Gänse und Enten nehmen als natürliche Nahrung Gras und Körner auf Feldern zu sich. Brot und Backwaren sind für Gänse und Enten unnatürliches Futter. Sie sind ohne verwertbare Vitamine und Mineralstoffe, die gerade in der Wachstumsphase so wichtig sind. Die Kalorienbomben Brot und Backwaren befeuern ein zu schnelles Wachstum der Schwungfedern. Bei Jungvögeln sind die Gelenke noch sehr weich und instabil. Auch Muskeln und Bänder sind noch viel zu schwach ausgeprägt und nicht gefestigt.
Als Folge kippt die ganze „Hand“ nach außen, und das Handgelenk verdreht sich. „Das lässt sich korrigieren, indem man die Flügel tapet. Doch darf man bei Wildvögeln nicht vergessen, dass sie schnell fehlgeprägt werden, wenn man sie eine Zeitlang aus ihrem Familienbund herausnimmt“, erklärt Victoria Tüllmann: „Das kann dazu führen, dass man sie später nicht mehr auswildern kann. Trotzdem sollten alle Parkbesucher und Spaziergänger die Augen nach Jungvögeln mit Kippflügeln aufhalten. Bei schnellem Einschreiten kann man das Leben der Tiere noch retten.“
Die Hinterlassenschaften einer Kanadagans sind gewaltig
Eine ausgewachsene Gans frisst pro Tag etwa 1,4 Kilogramm Gras. Das entspricht einem Drittel ihres Gewichts. „Sie futtern sich querbeet durch den Tag. Da Gänse immer in Flucht- und Flugbereitschaft sind, kann diese Menge nicht lange im Körper verbleiben. Deswegen wird das Futter sehr schnell und schlecht verdaut und ausgeschieden. Und das passiert bis zu 150 Mal am Tag“, weiß Martin Angenheister-Bennett. In der Folge verschlammen Teiche und Weiher, sind Park- und Grünflächenwege übersät mit Kot – von Gänsen, die durchaus die Vogelgrippe haben können und oft Parasitenträger sind.
Zutrauliche Tiere sind leichte Beute für Tierquäler
Und noch etwas treibt Martin Angenheister-Bennett um: Das Füttern führt leider auch dazu, dass die Tiere Menschen gegenüber viel zu zutraulich sind: „Wenn ich in unseren Grünanlagen an Gänsen vorbeigehe, bleiben sie bis auf zweieinhalb Meter Abstand stehen. In der freien Natur fliegt ab 300 Meter Abstand zum Menschen der gesamte Schwarm davon.“
Dieses Zutrauen zum Menschen müssen die Gänse bitter bezahlen: Victoria Tüllmann erlebt in ihrer Praxis wöchentlich angeschossene Tiere, Martin Angenheister-Bennett weiß sogar von einer Gans, der ein Armbrustpfeil im Hals steckte.
Unsere große Bitte
Es bleibt also nur, die Menschen aufzuklären und immer wieder an ihre Vernunft zu appellieren: Bitte füttern Sie keine Kanadagänse. Vor allem Brot und Backwaren können zu Behinderungen und Flugunfähigkeit führen. Letzteres gilt selbstverständlich auch für andere Gansarten.
Aber: „Wildvögel wie etwa Meisen, Finke, Spechte oder Amseln sollten allerdings ganzjährig mit speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenem Vogelfutter zugefüttert werden“, empfiehlt Victoria Tüllmann.
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